Beseelte Köperkultur - Das Konzept der Waldorfschule
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde
der Schulsport in Deutschland in erster Linie als Instrument zur Verbesserung
der Wehrhaftigkeit verstanden. Dies hatte auch zur Folge, dass der Sportunterricht
primär nur Jungen berücksichtigte. Für Mädchen war der Sport vor dem ersten
Weltkrieg nicht verpflichtend und spielte auch in der Folgezeit eine eher
untergeordnete Rolle. In der Weimarer Republik lag der Fokus für Jungen weiterhin
auf der Kampffähigkeit während Mädchen sich in Tanzen und Spielen übten.
Rudolf Steiner (1861-1925),
Begründer der Waldorfpädagogik, war bezüglich der Sinnhaftigkeit einer solchen Auslegung
des Schulsports anderer Auffassung. Im Sinne seiner anthroposophischen
Menschenkunde verstand Steiner den Schulsport als Teil einer holistischen
Erziehung, die die Ausbildung eines harmonischen Zusammenwirkens von Geist, Seele
und Leib zum Ziel hatte. So sah Steiner bereits zur Gründung der ersten Waldorfschule
die Bewegung als wichtigen Teil der ganzheitlichen Erziehung an und
inkorporierte die Eurythmie als Pflichtfach in das Curriculum.
Auf den Wunsch der Eltern und
Kinder hin suchte Steiner zudem einen Weg, den Turnunterricht, wie er an
Regelschulen praktiziert wurde so umzugestalten, dass er sich mit seinen
theoretischen Grundgedanken vereinbaren ließ. Daher entwickelte der Turnlehrer
Fritz Graf von Bothmer die nach ihm benannte „Bothmer-Gymnastik“. Diese berücksichtigt
in besonderem Maße die Entwicklungsphasen des Kindes und bezieht den ganzen Menschen
mit ein. Daher liegt bei der Bothmer-Gymnastik neben der leiblichen Entwicklung
auch besonderes Augenmerk auf der seelisch-geistigen und moralischen Entwicklung
des Kindes. Die Verantwortung des Sportlehrers ist somit aus Sicht der
Waldorfpädagogen ungleich größer als die eines Lehrers an einer Regelschule.
Wichtige Aspekte der Bothmer-Gymnastik
sind die Wahrnehmung des Raumes samt seiner Dimensionen, die Wahrnehmung der
Zeit und die bewusste Bewegung, die den Schülern dabei hilft sich ihrer selbst
bewusst zu werden und eine körperliche Identität zu entwickeln. Dabei sind die
verschiedenen Entwicklungsphasen des Schülers immer der Maßstab und die Grundlage
für den Sportunterricht an Waldorfschulen. Für die erste und zweite Klasse ist kein
Sport im heutigen Sinne für die Kinder vorgesehen. Stattdessen stehen spielerisches
Tun und das phantasievolle Spielen und Tummeln im Vordergrund. Ab der dritten
Klasse wird das eigentliche Turnen in den Unterricht mit aufgenommen, wobei das
Erleben einer Phantasiewelt weiterhin ein wichtiger Faktor bleibt. Ab der
Mittelstufe wird im Vergleich zur Unterstufe mehr Wert auf einen
Wettstreitcharakter gelegt. Dabei ist allerdings nicht nur der Wettbewerb mit
anderen gemeint sondern im Besonderen auch der Kampf mit sich selbst und das
bewusstere Erleben der Mechanik des Körpers. In der Oberstufe geht es dann
explizit um die Einbeziehung der Seelenkräfte, womit den Schülern geholfen
werden soll „im kultivierten Fühlen und exakten Denken ein immer stärkeres
Bewusstsein zu entfalten.“ Zudem ist der Sportunterricht in der Oberstufe mehr
auf die Bewegungstechnik und die Verbesserung der Leistung ausgerichtet. Zudem
übernehmen Oberstufenschüler an Waldorfschulen mehr Verantwortung bei den
eigentlichen Übungen, indem sie teilweise die Aufgaben des Sportlehrers übernehmen
und auf diese Weise lernen selbstständiger zu sein.
Zudem kann man festhalten, dass Bothmer
stets betont hatte, dass „jede Übung für beide Geschlechter voll gültig und
entwicklungsmäßig notwendig sei.“ Auch wenn dies heute nicht an allen
Waldorfschulen so gehandhabt wird, so zeigt es doch, dass die Idee des
Schulsports ,wie sie von Bothmer entwickelt wurde, in dieser Hinsicht seiner
Zeit voraus war. Dabei ist vorgesehen, dass Jungen und Mädchen stets gemeinsamen
Sportunterricht erhalten und dieser Unterricht im „team teaching“ stattfindet.
Das bedeutet, dass die Schüler ab der dritten Klasse von einem Sportlehrer und
einer Sportlehrerin unterrichtet werden. So findet man an Waldorfschulen zwar
ähnlich große Klassen wie an Regelschulen, doch bietet das team teaching die Möglichkeit
eines intensiveren Unterrichts.
Abschließend kann gesagt werden,
dass der Sportunterricht an Waldorfschulen in einem großen pädagogischen
Zusammenhang gesehen wird. Dabei stehen nicht etwa das Aneignen von bestimmten Fähigkeiten,
Kompetenzen und Inhalten im Fokus sondern vielmehr die Schaffung eines
Lernumfeldes, welches es den Schülern ermöglicht, zu einem eigenverantwortlich
handelnden Ich zu werden, das sich entsprechend seines persönlichen Willens in
die Gesellschaft einbringen kann. Dabei ist es ausdrücklich auch der Auftrag
des Sportunterrichts, dass sich Schüler und Schülerinnen in herausfordernden
Situationen wiederfinden, die ihnen die Gelegenheit bieten, Grenzen auszuloten,
Konflikte zu überwinden und Schwierigkeiten zu bewältigen. Dies gilt gleichermaßen
für körperliche und soziale Herausforderungen und soll somit einen wichtigen
Teil zur Charakter- und Willensbildung der Heranwachsenden beitragen.








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